"Außerdem studierte er abstruse Bücher, die aus chaldäischen Bibliotheken
gestohlen worden waren, wenn Fafhrd auch aus langer Erfahrung wusste,
dass der Mausling selten über das Vorwort hinauskaum (obwohl er oft die
letzten Kapitel aufrollte und neugierig hineinschaute und beißende Kritik
äußerte)."

Fritz Leiber, Das Spiel des Adepten


Mittwoch, 1. August 2012

Rausch der Poesie

Im Jahre 1908 entdeckte der fünfzehnjährige Clark Ashton Smith in einer alten Ausgabe des Cosmopolitan ein Gedicht, das mit den folgenden Versen anhob:

Without, the battlements of sunset shine,
'Mid domes the sea-winds rear and overwhelm.
Into a crystal cup the dusky wine
I pour, and, musing at so rich a shrine,
I watch the star that haunts its ruddy gloom.
Now Fancy, empress of a purpled realm,
Awakes with brow caressed by poppy-bloom,
And wings in sudden dalliance her flight
To strands where opals of the shattered light
Gleam in the wind-strewn foam [...]

Es trug den Titel A Wine of Wizardry und begeisterte  ihn in einem Maße, wie dies bisher nur den Gedichten Edgar Allan Poes gelungen war. Jahre später schrieb er: "The poem, with its necromantic music, and splendours as of sunset on jewels and cathedral windows, was veritably all that its title implied; and – to pile marvel upon enchantment – there was the knowledge that it had been written in my own time, by someone who lived little more than a hundred miles away." Es sollten noch etwa drei Jahre vergehen, bis er den Schöpfer dieser Verse, George Sterling, selbst kennenlernen würde. Dann aber würde der König der Bohème von San Francisco, der inoffizielle Poeta Laureatus der Bay Area, zu seinem unermüdlichen Förderer und treuen Freund werden. Ohne A Wine of Wizardry wäre Smiths Oeuvre, sowohl seine eigene Lyrik wie auch seine phantastischen Short Stories, nicht denkbar.

Sterlings vielleicht berühmtestes Gedicht war erstmals 1907 veröffentlicht worden. Neben einigen anderen Poemen desselben Dichters, dem lyrischen Werk Clark Ashton Smiths und dem Book of Jade von David Park Barnitz ist es meiner Ansicht nach das großartigste Beispiel für Décadence-Lyrik in der amerikanischen Literatur.

Um A Wine of Wizardry richtig beurteilen zu können, muss man wissen, dass Schönheit für Sterling eine metaphysische Qualität besaß. In seinen Augen war sie eine jenseitige, unveränderliche Gewalt, die sich dem Künstler in einer Art Erweckungserlebnis offenbare und die dieser nur mit sehr unzulänglichen Mitteln nachzubilden imstande sei. Sie hat im Grunde nichts mit der sinnlichen Realität, die uns umgibt, zu tun. In ihr kann das Auge des Dichters bestenfalls einen matten Abglanz der Idee des Schönen finden. Angesichts dieses abstrakten Schönheitsbegriffes ist es nur zu verständlich, dass Sterling  die Musik offenbar für die höchste oder reinste aller Kunstformen hielt – für das "bond unseen/ That God hath made between/ His silence and our need." Während alle anderen Künste – zumindest in ihrer traditionellen Form – von der sinnlich wahrnehmbaren Realität ausgehen und bis zu einem gewissen Grad in deren Nachahmung bestehen, ist die Musik scheinbar gegenstandslos. In Sterlings Augen musste sie darum am ehesten geeignet erscheinen, die ungreifbare, transzendente Schönheit wiederzugeben:

Her face we have a little, but her voice
Is not of our imagining nor time,
And her deep soul is one, perchance, with life,
Immortal, cosmic. Heritage of her
Is half the human birthright. She hath part
With Love and Death in the one mystery
Of being, lifted on eternal wings
From world to world. Her home is in our hearts.

Der eigenen Lyrik versuchte er deshalb den Charakter von Musik zu verleihen. Rhythmus, Maß und Klang sind gegenüber dem Inhalt von primärer Bedeutung. Damit reiht sich Sterling in die Phalanx der Symbolisten ein, auch wenn seine Dichtung natürlich nie die Intensität und Perfektion von Mallarmés poésie pure erreicht.

Die Bedeutung eines symbolistischen Gedichtes lässt sich nicht durch eine inhaltliche Analyse ergründen, sie offenbart sich nur im Gesamteindruck des Kunstwerks. Niemand hat das schöner ausgedrückt als Stefan George:

Sie ist nach willen nicht: ist nicht für jede
Gewohne stunde: ist kein schatz der gilde.
Sie wird den vielen nie und nie durch rede
Sie wird den seltnen selten im gebilde. (1)

Es wäre darum sinnlos, wollte ich hier versuchen, den Inhalt von A Wine of Wizardry im Detail wiederzugeben. Man muss das Gedicht lesen, am besten laut. Es beschreibt den Flug der Fantasie, angeregt vom Anblick eines Sonnenuntergangs über dem Pazifik und dem Genuss eines Glases Wein. Dabei eröffnet sich uns ein Kaleidoskop phantastischer, exotischer, morbider Szenerien, bevölkert von grausigen und bizarren Gestalten. Es gibt weder einen Ruhepunkt noch eine ordnende Architektur. Um einen ungefähren Eindruck von diesem eigenartigen Werk zu vermitteln, möchte ich einmal jene Zeilen anführen, die auch Clark Ashton Smith in seinem Nachruf auf den Freund zitiert:

Within, lurk orbs that graven monsters clasp;
Red-embered rubies smolder in the gloom,
Betrayed by lamps that nurse a sullen flame,
And livid roots writhe in the marble's grasp,
As moaning airs invoke the conquered rust
Of lordly helms made equal in the dust.
Without, where baleful cypresses make rich
The bleeding sun's phantasmagoric gules,
Are fungus-tapers of the twilight witch
(Seen by the bat above unfathomed pools)
And tiger-lilies known to silent ghouls,
Whose king hath digged a somber carcanet
And necklaces with fevered opals set.

Direkt nach seinem Erscheinen rief A Wine of Wizardry heftige Kontroversen in den amerikanischen Feuilletons hervor. Sterlings Förderer und 'Meister' Ambrose Bierce sprach von einem ‘Bauernaufstand’ des nationalen Spießertums. Er hatte das Gedicht im Cosmopolitan veröffentlicht und mit einer Einleitung versehen, in der er Sterling als "incomparably the greatest [poet] that we have on this side of the Atlantic" (2) bezeichnete. Man darf annehmen, dass er sein Urteil absichtlich so überspitzt formulierte, um besonders heftige Reaktionen zu provozieren. Und er wurde nicht enttäuscht. In Scharen fielen Kritiker aus ganz Amerika über Sterling her. Die bekannte Dichterin Ella Wheeler Wilcox verfasste in kürzester Zeit eine bösartige Parodie auf A Wine of Wizardry, im San Francisco Examiner war zu lesen, dass "five lines from [the poem] would drive a man to beat a cripple, and ten lines would send him to the bottom of the river", und Kritiker Porter Garnett verglich es mit "the hammering of a tattoo on a sweet-toned bell." (3) Selbst Sterlings Freundinnen Ina Coolbrith und Gertrude Atherton taten sich schwer damit, den Wert des Werkes anzuerkennen. Am häufigsten war der Vorwurf zu hören, dem Gedicht fehle "a message to humanity", wie es Brian Hooker im Bookman formulierte. (4)

Das Morbide vieler Szenen war den literarischen Sittenwächtern natürlich vor allem ein Dorn im Auge, und die Zeilen "The blue-eyed vampire, sated at her feast,/ Smiles bloodily against the leprous moon" erlangten schon bald zweifelhafte Berühmtheit. Für die Streiter des ‘guten Geschmacks’ und der christlichen Moral verkörperten sie die ganze Perversität der Décadence. Die San Franciscoer Bohème kommentierte das auf ihre Weise: Das Verspaar zierte wenig später die Wand von Coppa’s Restaurant, einem der ältesten und beliebtesten Treffpunkte der munteren Gemeinde.

Ebenso oft wurde Sterlings Sprachstil, seine Vorliebe für wenig gebräuchliche Worte und archaische Formulierungen, beanstandet. Dies nun traf direkt einen der Kernpunkte seiner Ästhetik. Er selbst erklärte dazu: "Poetry must abjure every literal and familiar element, accumulate as many images of strange loveliness, and cherish all the past embodiments of visionary beauty, such as the beings of classical mythology." (5)
Ohne Zweifel besteht bei der Bevorzugung möglichst auserlesener und seltener Worte, wie sie von Sterling praktiziert wurde, stets die Gefahr, ins Pompöse und Lächerliche abzugleiten. Richtig gehandhabt und in Verbindung mit einem feinen Gespür für die musikalischen Qualitäten der Sprache, lassen sich damit jedoch erstaunliche Effekte erzielen. A Wine of Wizardry wirkt wie ein prunkvolles Geschmeide, übersät mit funkelnden Juwelen und getaucht in das blutige Rot der untergehenden Sonne und des dunklen Weins.
Zugleich übt das Gedicht eine soghafte Wirkung auf den Leser aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Obwohl völlig handlungsfrei, enthält es keine Ruhepunkte, gleicht einem ständigen Strömen der Sprache. Der damals sehr prominente Dichter Edwin Markham bemängelte, "Mr. Sterling gives us the words, the images and the free lines; but they are not fused into a living whole. In every literary creation there must be a central figure with something that corresponds to a woven plot followed by a consistent crisis. There must be dramatic movement." (6)  Eben diesem Verständnis von Poesie verweigert sich das Gedicht ganz bewusst. Es erzählt keine Handlung, sondern beschwört eine Stimmung herauf. Dementsprechend besitzt es keinen dramatischen Aufbau, keine sukzessive Steigerung, keine Krise. Im Grunde ist es darauf angelegt, ewig weiterzuströmen. Darin ähnelt es nicht zufällig Richard Wagners ‘unendlicher Melodie’. Wir müssen uns ihm hingeben, um es genießen zu können. Vor allem dürfen wir nicht nach einer ‘Aussage’ oder ‘zentralen Idee’ suchen. Ambrose Bierce hatte völlig recht, als er schrieb: "The verses serve no cause, tell no story, point no moral. Their author has no ‘purpose, end, or care’ other than the writing of poetry. His work is as devoid of motive as is the song of a skylark it is merely poetry." (7) A Wine of Wizardry ist l’art pour l’art in Reinform. In ihm kam Sterling seinem Ziel, die unaussprechliche Idee des Schönen in der Musik der Sprache zum Ausdruck zu bringen, vielleicht am nächsten. Soweit man einem falsch gestellten Ziel eben nahe kommen kann. Clark Ashton Smith schrieb über das Gedicht seines Mentors: "Few things in literature are more serviceable as a test for determining whether people feel the verbal magic of poetry - or whether they merely comprehend and admire the thought, or philosophic content." Das mag übertrieben sein, enthält aber einen wahren Kern. A Wine of Wizardry wird nur der zu schätzen wissen, der anerkennt, dass die poetische Sprache unabhängig von irgendeinem Inhalt einen eigenständigen Wert besitzt.

Andererseits habe ich den Vergleich zu Wagner natürlich nicht ohne Grund angestellt. Nietzsche schrieb in seiner Polemik gegen den von ihm einst so verehrten Komponisten: "Die Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark, aber undeutlich, ‘unendliche Melodie’ genannt wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll schwimmen." (8) Ähnliches gilt auch für Sterlings Sprachmusik. Sie ist darauf ausgerichtet, eine berauschende Wirkung zu erzielen. Der Leser – oder eigentlich Hörer – soll sich in ihr verlieren. Und wie alle Rauschmittel dient auch sie letztenendes dazu, eine unangenehme Wirklichkeit vergessen zu machen.

Warum Sterling in seiner Lyrik einem solchen eskapistischen Verlangen Ausdruck verlieh, darauf möchte ich jetzt nicht näher eingehen.(9)  Doch sei es allen Liebhaberinnen und Liebhabern der phantastischen Poesie ans Herz gelegt, einmal A Wine of Wizardry zu lesen. Und danach haben sie ja vielleicht Lust, sich auch ein Bisschen unter den übrigen Werken Sterlings umzuschauen. Ein paar weitere Juwelen gibt es da auf jedenfall zu entdecken ...


(1) Stefan George: Der Teppich. In: Ders.: Der Teppich des Lebens und Die Lieder von Traum und Tod. S. 42.
(2) Ambrose Bierce: A Poet and his Poem. In: The Collected Works. Bd. 10. S. 181.
(4) Zit. nach: Michael Cisco: Biographical Sketch.
(5) Zit. nach: Horace Gregory & Marya Zaturenska: A History of American Poetry. 1900-1940. S. 56.
(6) Edwin Markham: California the Wonderful. S. 357f.
(7) Ambrose Bierce: A Poet and his Poem. In: The Collected Works. Bd. 10. S. 180.
(8) Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagner. In: Ders.: Der Fall Wagner [u.a.]. KSA 6. S. 421f.
(9) Ich träume ja immer noch davon, einmal meine Clark Ashton Smith - Biographie fertigzustellen, in der es auch ein paar Kapitel über die 'Westküstenromantik' und George Sterling geben soll ...

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